UNREPRESENTED NATIONS AND PEOPLES ORGANIZATION (UNPO)
(Organisation nicht repräsentierter Nationen und Völker)

19. Juni 1995

Ansprache an den Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages

Dr. Michael van Walt van Praag
Generalsekretär der Organisation nicht repräsentierter Nationen und Völker

Inhalt

Teil 1: Der Status Tibets
1. Frühe Geschichte
2. Mongolischer Einfluß
3. Die Beziehungen zu den Manchu, Gorkha und britischen Nachbarn
4. Tibet im 20. Jahrhundert
5. Die Invasion Tibets
6. Schlußfolgerung
Teil II: Die Stichhaltigkeit der Hauptargumente Chinas
Schluß

Einleitung

Tibet ist am Verschwinden. Die Ereignisse überstürzen sich auf dem Dach der Welt, was nicht nur für Tibeter und Chinesen, sondern für die gesamte geographische Region und das Kräftegleichgewicht auf der Erde große Veränderungen mit sich bringen könnte.

Tibet ist nicht das romantische "Land der Lamas", kein Shangrila. In der Tat ist es dies niemals gewesen. Tibet ist ein großes Land, das ein Viertel des Territoriums der heutigen VR China einnimmt. An geographischen Ausmaßen ist es zu vergleichen mit Indien, Saudi Arabien oder dem kontinentalen Westeuropa ohne Skandinavien. Tibet ist ein strategisch hoch wichtiges Gebiet im Herzen Asiens, wo die Riesenstaaten des Kontinents aufeinander treffen. Was sich in Tibet ereignet, ist daher von viel größerer Wichtigkeit, als man gewöhnlich meint.

Heute möchte ich kurz über den Status Tibets sprechen. Dieses Thema ist sehr wichtig, denn es befähigt uns, die Grundlage für die Anwesenheit Chinas in Tibet zu bestimmen und gewisse Fragen zu beantworten. Ist das, was in Tibet geschieht, eine rein innenpolitische Angelegenheit Chinas, die es intern in Angriff nehmen muß? Geht diese Frage sonst niemand etwas an? Oder ist das, was in Tibet und mit den Tibetern geschieht, eine Frage internationalen Ausmaßes, die zurecht Gegenstand weltweiter Besorgnis sein sollte? Der Anspruch Chinas auf die Souveränität über Tibet bildet den Kern der "Tibet-Frage". Es geht hier nicht nur um ein Problem von Menschenrechten oder der Rechte einer religiösen Minderheit, wie manchmal angenommen wird. Menschenrechtsverletzungen in Tibet und die kulturelle Zerstörung sind, wie tragisch und einschneidend sie auch sein mögen, nur die Symptome eines tiefer liegenden Problems. Der eigentliche Streitpunkt ist aus chinesischer wie auch aus tibetischer Sicht die (oder der Mangel an) Legitimität der Präsenz Chinas in Tibet. Ohne dieses Problem anzugehen werden alle Versuche, eine Lösung für die tragische Lage in Tibet zu finden, fehlschlagen.

Die Schlüsselfrage, die es zu prüfen gilt, ist daher: Mit welchem Recht kann China, falls es überhaupt ein solches hat, einen legalen Anspruch auf Souveränität über Tibet erheben?

China begründet seine Anwesenheit in Tibet mit zweierlei Argumenten: Erstens, sei Tibet schon immer ein integraler Teil Chinas gewesen, und zweitens, sei Tibet wirtschaftlich und gesellschaftlich extrem rückständig gewesen.

Eine Erörterung des völkerrechtlichen Status Tibets unmittelbar vor der kommunistischen Invasion der Chinesen 1950 erfordert eine sorgfältige und sachliche Nachforschung sowie eine juristische Analyse der Fakten. Eine Zusammenfassung hiervon finden wir in Teil I dieser Abhandlung. Die Schlußfolgerung aus solch einer Studie zeichnet sich ab: Vor der Besetzung Tibets durch China, die 1951 größtenteils abgeschlossen war, war Tibet de facto und de jure ein unabhängiger Staat, während der heutige Status Tibets der eines illegal besetzten Landes ist. Jemand, der Tibet besucht, würde automatisch zu demselben Schluß gelangen.

Trotzdem ist nützlich, wenn wir die Hauptpunkte der tibetischen Geschichte, sowie die von China vorgebrachten Argumente zur Fundierung seines Anspruches, Tibet sei Jahrhunderte lang ein integraler Bestandteil Chinas gewesen, näher betrachten.

Teil 1

TEIL I: Der Status Tibets

Die tibetische Exilregierung unter Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama vertritt konsequent die Ansicht, daß Tibet unter illegaler chinesischer Besatzung steht, seitdem China das unabhängige Land 1949/50 überfiel. Die VR China ihrerseits besteht darauf, daß ihre Beziehungen zu Tibet eine rein innere Angelegenheit seien, weil Tibet Jahrhunderte lang ein Bestandteil Chinas war und bleibt. Die Frage über den Status Tibets ist daher im wesentlichen eine völkerrechtliche Frage, aber dennoch von unmittelbarer politischer Relevanz.

Die VR China erhebt nicht als Ergebnis der militärischen Unterwerfung oder Besetzung Tibets nach der Invasion von 1949/50 den Anspruch auf souveräne Rechte über Tibet. In der Tat könnte die Volksrepublik nur schwerlich solch einen Anspruch geltend machen, nachdem sie sonst kategorisch illegale Souveränitätsansprüche anderer Staaten aufgrund von Eroberung, Besatzung oder Aufzwängung ungleicher Verträge verwirft. Statt dessen gründet die Volksrepublik ihren Anspruch auf Tibet alleine auf die Theorie, daß Tibet schon vor 700 Jahren ein Teil Chinas geworden sei und seitdem auch geblieben sei.

Abschnitt 1

Frühe Geschichte

Obwohl die aufgezeichnete Geschichte des tibetischen Staatswesens auf den Beginn der Yarlung Dynastie im Jahr 127 v.Chr. zurückgeht, wurde das Land, wie wir es jetzt kennen, erstmals im 7. Jahrhundert n.Chr. unter König Songtsen Gampo und seinen Nachfolgern geeint. Tibet bildete in den folgenden drei Jahrhunderten eine der größten Mächte in Asien, wie eine Inschrift auf einer Säule am Fuße des Potala Palastes in Lhasa und geschichtliche Aufzeichnungen der chinesischen Tang aus jener Zeit bestätigen. Ein offizieller Friedensvertrag zwischen China und Tibet von 821/823 legte die Grenzen zwischen den beiden Ländern fest und verbürgte, daß "zwischen den zwei Ländern kein Rauch oder Staub aufsteigen soll". Die beiden Vertragspartner gelobten feierlich, daß die "große Ära, in der Tibeter in Tibet glücklich sind und Chinesen in China glücklich sind, niemals enden möge".

Abschnitt 2

Mongolischer Einfluss

Als das Mongolenreich Tschingis Khans im 13. Jahrhundert gegen Europa im Westen und China im Osten expandierte, schlossen tibetische Führer von der mächtigen Sakya Schule des Tibetischen Buddhismus ein Abkommen mit dem Mongolen-Khan Godan, um die Eroberung Tibets zu verhindern. Die tibetischen Lamas versprachen politische Loyalität sowie religiösen Segen und Unterweisung im Tausch für Schirmherrschaft und militärischen Schutz. Diese religiöse Beziehung wurde so wichtig, daß Kublai Khan, als er Jahrzehnte später China eroberte und die Yuan Dynastie (1279-1368) begründete, dem Sakya Lama anbot, Präzeptor des Khans und oberster Priester seines Reiches zu werden.

Die Beziehung zwischen Mongolen und Tibetern, die so ihren Anfang nahm und bis ins 20. Jahrhundert währte, war eine Reflexion der engen ethnischen, kulturellen und insbesondere religiösen Verwandtschaft dieser zwei zentralasiatischen Völker. Das Mongolenreich war ein Weltreich und - was auch immer das Verhältnis zwischen seinen Herrschern und den Tibetern gewesen sein mag - die Mongolen legten niemals die Verwaltung von Tibet und China zusammen, noch hängten sie Tibet in irgendeiner Form an China an. Das jüngste Studium der historischen Quellen Chinas zeigt vielmehr, daß die mongolischen Yuan Kaiser - entgegen den heutigen propagandistischen Beteuerungen der Chinesen - Tibet niemals als einen integralen Bestandteil ihres Reiches betrachteten.

Tibet brach die politischen Beziehungen zu dem Kaiser 1350 ab, also noch bevor China seine Unabhängigkeit von der Mongolenherrschaft erlangte. Erst im 18. Jahrhundert geriet Tibet wieder bis zu einem gewissen Grade unter fremden Einfluß.

Abschnitt 3

Die Beziehungen zu den Manchu, Gorkha und britischen Nachbarn

Tibet knüpfte keine politischen Beziehungen zu der chinesischen Ming Dynastie (1386-1644). Die offizielle Geschichte der Ming Dynastie, die Ming Shi, erwähnt tatsächlich die Autorität des Dalai Lama über die "Fremden der westlichen Länder". Andererseits hielt der Dalai Lama, der 1642 mit Hilfe des mongolischen Schirmherrn Gushri Khan seine volle souveräne Herrschaft über Tibet konsolidierte, weiterhin gute Beziehungen zu den verschiedenen Mongolen-Fürsten aufrecht. Er knüpfte 1639 auch enge religiöse Bande zu dem Manchu Kaiser und seinem Nachfolger Shunzhi, der China eroberte und die Qing Dynastie (1644-1911) begründete. Der Dalai Lama willigte ein, der spirituelle Führer der Manchu Kaiser zu werden und akzeptierte dafür Schirmherrschaft und politischen Schutz. Diese Beziehung von "Priester und Patron" (auf Tibetisch mit choe-yoen bezeichnet), welche der Dalai Lama auch zu einigen mongolischen Fürsten und tibetischen Adeligen pflegte, war das einzige formelle Band, das während der Qing Dynastie zwischen Tibetern und Manchus existierte. Es beeinträchtigte Tibets Unabhängigkeit in keinerlei Weise.

Auf politischer Ebene gelang es einigen Manchu Kaisern, einen gewissen Einfluß über Tibet auszuüben. So entsandten die Kaiser Kangxi, Yong Zhen und Kienlung zwischen 1720 und 1792 viermal ihre kaiserlichen Truppen nach Tibet, um den Dalai Lama und das tibetische Volk vor den Invasionen der Mongolen und Gorkhas oder vor inneren Unruhen zu schützen. Diese Expeditionen erlaubten es dem Kaiser, seinen Einfluß in Tibet geltend zu machen. Er entsandte seine Repräsentanten in die tibetische Hauptstadt Lhasa, von denen einige in seinem Namen erfolgreich auf die tibetische Regierung Einfluß nahmen, insbesondere was die auswärtigen Beziehungen anbetrifft. Auf der Höhe der Manchu Einflußnahme in Tibet war die Beziehung nicht unähnlich derjenigen, wie sie sich zwischen einer Großmacht und einem Satellitenstaat oder Protektorat gestaltet, also derart, daß sie zwar von einer gewissen politischen Bedeutung ist, die Unabhängigkeit des schwächeren Staates aber nicht aufhebt.

Diese Situation hielt einige Jahrzehnte lang an. Tibet wurde niemals voll in das Manchu Reich und noch viel weniger in China inkorporiert, und es fuhr fort, sich um die Beziehungen zu seinen Nachbarländern größtenteils selber zu kümmern. Das soll nicht heißen, daß die Manchu Kaiser nicht einen beachtlichen Einfluß in Tibet ausgeübt hätten. In Abhängigkeit von der Person und der Fähigkeit seiner Repräsentanten in Lhasa (Amban) hatten sie für einen gewissen Zeitraum eine entschiedene Mitsprache bei der Zusammensetzung und den Entscheidungen der tibetischen Regierung.

Obwohl der Manchu Einfluß zeitweise sehr bedeutend war, währte er nicht lange. Als die Engländer Lhasa besetzten und 1904 mit Tibet einen bilateralen Vertrag, die sogenannte Lhasa Convention, schlossen, hatte er seine Wirkung gänzlich verloren. Trotz dieser verminderten Einflußnahme erhob die kaiserliche Regierung in Peking weiterhin Anspruch auf eine gewisse Autorität über Tibet, besonders, was die internationalen Beziehungen betraf. Von der britischen Kolonialregierung wurde diese Autorität bei ihren Verhandlungen mit Peking und St. Petersburg als "Suzeränität" (Oberhoheit) bezeichnet. Kaiserliche Armeen versuchten 1910 einen konkreten Einfluß zu erzwingen, indem sie in das Land eindrangen und Lhasa besetzten. Der Dalai Lama floh nach Britisch Indien und kehrte erst, nachdem die chinesischen Truppen aus Tibet vertrieben worden waren, nach Lhasa zurück. Nach der Revolution in China 1911 und dem Sturz des Manchu Kaisers ergaben sich die kaiserlichen Truppen der tibetischen Armee und wurden unter zwei sino-tibetischen Verträgen, die im August und Dezember 1912 unterzeichnet wurden, repatriiert. Der Dalai Lama stellte die volle Unabhängigkeit Tibets wieder her - nach innen durch die Proklamation von 1913 und nach außen durch seine Beziehungen zu fremden Regierungen, wie der britischen, russischen und chinesischen, sowie durch einen Vertrag mit der Mongolei.

Abschnitt 4

Tibet im 20. Jahrhundert

Der Status Tibets nach der Vertreibung der Manchu Truppen ist kein Thema für einen ernsten Disput. Was auch immer für Beziehungen zwischen den Dalai Lamas und den Manchu Kaisern der Qing Dynastie gewesen sein mögen, mit dem Fall des Kaiserreiches und der Dynastie erloschen sie. Von 1911 bis 1950 vermied Tibet erfolgreich unerwünschten fremden Einfluß und verhielt sich in jeder Beziehung wie ein völlig unabhängiger Staat. Am Vorabend der chinesischen Invasion, die 1949 einsetzte, besaß Tibet alle Attribute der Eigenstaatlichkeit, wie sie vom Völkerrecht anerkannt sind: ein Staatsgebiet, ein dieses Staatsgebiet bewohnendes Volk und eine Regierung, die fähig ist, internationale Beziehungen zu knüpfen. Tibet hatte sein eigenes Staatsoberhaupt und Regierungssystem, seine Justiz, sein Steuersystem, seinen Postdienst (sogar Briefmarken), sein Auswärtiges Amt und seine bewaffneten Streitkräfte.

Tibet unterhielt diplomatische Beziehungen zu Nepal und Bhutan, in eingeschränktem Maße zu der Mongolei und zu Rußland, und umfangreichere zu Großbritannien und danach zu dem unabhängigen Indien. Die Beziehungen zu China blieben sehr belastet. Die Chinesen führten einen Grenzkrieg mit Tibet, während der chinesische Präsident wiederholt Tibet (und Nepal) formell drängte, der chinesischen Republik "beizutreten", womit er implizierte, daß Tibet zu jener Zeit kein Bestandteil von China war. Dennoch betonte er gleichzeitig der übrigen Welt gegenüber immer wieder nachdrücklich, Tibet sei schließlich eine der "fünf Rassen" Chinas.

Um die chinesisch-tibetischen Spannungen zu reduzieren, berief die Britische Regierung auf Initiative des Dalai Lama 1913 eine Dreiparteien-Konferenz in Simla ein, wo sich die drei Staaten zu gleichen Bedingungen trafen. Wie der britische Delegierte seinem chinesischen Kollegen plausibel zu machen versuchte, betrat Tibet die Konferenz als "eine unabhängige Nation, die China gegenüber keine Loyalität anerkennt". Die Konferenz war ein Mißerfolg, weil sie die Differenzen zwischen Tibet und China nicht beilegen konnte. Dennoch war sie bedeutsam, insofern die anglo-tibetische Freundschaft mit der Abschließung bilateraler Handels- und Grenzvereinbarungen bekräftigt wurde. In einer gemeinsamen Erklärung verpflichteten sich Großbritannien und Tibet, die chinesische Suzeränität und andere spezifische Rechte Chinas in Tibet nur dann anzuerkennen, wenn China den Vertragsentwurf der Simla Konvention unterzeichnet, die Tibet erweiterte Grenzen, die territoriale Integrität und die volle Autonomie garantierte. Aber China unterzeichnete niemals diese Konvention, die Bedingungen der Gemeinsamen Erklärung blieben jedoch voll in Kraft. Die Konferenz von Simla stellt eine Anerkennung der Souveränität Tibets sowohl durch Großbritannien als auch durch China dar, sowie eine Anerkennung seiner Fähigkeit, Verhandlungen zu führen und unabhängig und auf gleicher Basis mit anderen Staaten Verträge zu schließen.

Tibet pflegte seine internationalen Beziehungen in erster Linie durch seine Transaktionen mit der britischen, chinesischen, nepalesischen und bhutanesischen Gesandtschaft in Lhasa, auch mittels von Regierungsdelegationen ins Ausland. Nach der Unabhängigkeit Indiens wurde die britische Mission in Lhasa durch eine indische ersetzt. Damals sandte die indische Regierung folgende Botschaft an die Regierung Tibets:

"Die Regierung Indiens würde sich gerne vergewissern, daß die tibetische Regierung die Absicht hat, die Beziehungen auf der bestehenden Grundlage weiterzuführen, solange, bis Übereinkünfte über die beide Staaten angehenden Fragen getroffen werden. Dies ist die Regel, wie sie von allen anderen Ländern, von denen Indien vertragliche Beziehungen der Regierung Seiner Majestät übernommen hat, praktiziert wird".

Während des Zweiten Weltkriegs blieb Tibet trotz starken Druckes seitens der USA, Großbritanniens und Chinas, die Beförderung von militärischen Rüstungsgütern durch Tibet zu erlauben, neutral. Wäre Tibet ein Teil Chinas gewesen, wie China heute beteuert, so hätte Tibet nicht seine Neutralität in einem Krieg, in dem China zu den kriegführenden Staaten gehörte, erklären können, noch wäre seine Neutralität von den anderen Mächten respektiert worden. Aber dies war der Fall.

Tibet unterhielt niemals ausgedehnte internationale Beziehungen, aber jene Länder, mit denen es in Verbindung stand, behandelten Tibet so wie sie es mit jedem anderen souveränen Staat taten. Sein internationaler Status war in der Tat nicht verschieden von beispielsweise dem Nepals. Als Nepal 1949 Mitgliedschaft in der UNO beantragte, bezog es sich auf seine Verträge und diplomatischen Beziehungen zu Tibet, um sein völkerrechtliches Format als ein eigener Staat zu demonstrieren. Sogar der letzte offizielle Vorsteher der chinesischen Gesandtschaft in Lhasa, Shen Honglian, den die tibetische Regierung des Landes verwies, als China kommunistisch wurde und Mao Tsetung die Notwendigkeit der "Befreiung Tibets" verkündete, bestätigte, daß "sich Lhasa (d.h. Tibet) seit 1911 in jeder Hinsicht voller Unabhängigkeit erfreue".

Abschnitt 5

Die Invasion Tibets

Der Wendepunkt in der Geschichte Tibets kam 1949, als die Volksbefreiungsarmee der VR China erstmals in Tibet einmarschierte. Nachdem die kleine tibetische Armee geschlagen und die Hälfte des Landes besetzt war, auferlegte China im Mai 1951 der tibetischen Regierung das sogenannte "17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets". Da es unter Zwang unterzeichnet wurde (die Invasion Tibets hatte begonnen, die tibetische Armee war besiegt und China drohte, falls seine Bedingungen nicht akzeptiert würden, auf Lhasa vorzurücken), besaß das Abkommen vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gesehen keine Gültigkeit, es war vielmehr von Anfang an nichtig. Die Stationierung von 40.000 Soldaten in Tibet und die Drohung der völligen Auslöschung der tibetischen Nation ließen den Tibetern keine andere Wahl. Daher distanzierte sich der Dalai Lama bei der ersten Gelegenheit in Freiheit von dem Abkommen, als er nach seiner Flucht 1959 Indien betrat.

Abschnitt 6

Schlussfolgerung

Tibet war am Vorabend der chinesischen Invasion ein völlig unabhängiges Land. Im Laufe seiner 2000-jährigen Geschichte geriet das Land nur für kurze Zeitabschnitte im 13. und 18. Jahrhundert unter einen gewissen Fremdeinfluß. Wenige unabhängige Länder können dies heutzutage von sich behaupten. Wie der Botschafter Irlands bei den Vereinten Nationen und der spätere irische Außenminister Frank Aiken bei der Diskussion über die Tibet-Frage in der Vollversammlung von 1961 feststellte, "war Tibet jahrtausendelang, auf jeden Fall einige tausend Jahre lang so frei und hatte genau solche Kontrolle über seine Angelegenheiten wie jeder andere Mitgliedstaat dieser Versammlung auch, ja es war tausendmal freier, seine eigenen Belange wahrzunehmen, als viele der hier vertretenen Nationen".

Zahlreiche andere Länder machten im Verlauf der UN Debatten (1959, 1960, 1961 und 1965) Äußerungen, die eine ähnliche Anerkennung des unabhängigen Status Tibets reflektierten. So sagte beispielsweise der Delegierte der Philippinen: "Es ist ganz klar, daß Tibet am Vorabend der Invasion von 1950 nicht unter der Herrschaft irgend eines fremden Landes stand". Der Delegierte Thailands erinnerte die Vollversammlung daran, daß die Mehrheit der Staaten "die Behauptung, Tibet sei ein Teil Chinas, verwerfen". Die USA schlossen sich den meisten anderen Mitgliedern der UNO in der Verurteilung der chinesischen Aggression und Invasion Tibets an. In den Jahren 1959, 1960 und 1961 verabschiedete die UN Vollversammlung mehrere Resolutionen (1353 XIV, 1723 XVI und 2079 XX), in denen die Menschenrechtsverletzungen der Chinesen in Tibet verurteilt werden, und China aufgefordert wird, die Menschenrechte und Grundfreiheiten des tibetischen Volkes, einschließlich seines Rechtes auf Selbstbestimmung zu respektieren.

Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus hat Tibet bis auf den heutigen Tag seine Eigenstaatlichkeit beibehalten und gilt als ein unabhängiges Land unter illegaler Besetzung. Weder die chinesische Militärinvasion noch die anhaltende Besetzung durch die Volksbefreiungsarmee haben die Souveränität Tibets auf China übertragen. Wie zuvor festgestellt, hat die chinesische Regierung auch niemals behauptet, ihre Herrschaft über Tibet sei eine Folge von Eroberung. In der Tat pflichtet China dem Grundsatz bei, daß ein Eindringling niemals durch Drohung oder Gewalt (abgesehen von den von der UN Charta vorgesehenen außerordentlichen Umständen), durch Aufdrängung eines ungleichen Vertrages oder durch kontinuierliche widerrechtliche Besetzung eines Landes ein legales Recht auf das betreffende Territorium erwerben kann. Die Ansprüche Chinas basieren vielmehr auf der angeblichen Abhängigkeit Tibets von China unter einigen der mächtigsten Fremdherrschern Chinas im 13. und 18. Jahrhundert. Solche Behauptungen, die lediglich auf Reinterpretationen und Entstellungen von vergangenen imperialistischen und kolonialistischen Ansprüchen gründen, werden niemals völkerrechtliche Anerkennung finden.

Teil 2

TEIL II: Die Stichhaltigkeit der Hauptargumente Chinas

Wie zu Beginn dieser Ausführungen erwähnt, begründet China seine Präsenz in Tibet mit zwei Argumenten: Das eine ist, daß Tibet schon immer ein integraler Teil Chinas gewesen sei, und das andere, daß Tibet wirtschaftlich und sozial so rückständig war, daß es hätte "befreit" werden müssen.

Der Überblick über den Status Tibets im I. Teil macht deutlich, daß die aufgezeichnete Geschichte Tibets bis auf zweitausend Jahre zurückgeht und daß Tibet schon über eintausend Jahre lang als ein unabhängiges Land existierte. Im Laufe seiner Geschichte geriet Tibet zeitweise unter mehr oder weniger starken Einfluß durch die es umgebenden Mächte. Die Mongolen im 13. Jahrhundert und die Manchus im 18. und 19. Jahrhundert und die Briten im 20. Jahrhundert erhoben alle kurzzeitig Anspruch auf gewisse Rechte in Tibet. Insgesamt übten fremde Mächte etwas mehr als 200 Jahre lang einen spürbaren Einfluß auf Tibet aus.

Wenn wir uns die Argumente ansehen, die China zum Beweis, daß Tibet schon immer ein Bestandteil Chinas gewesen ist, vorbringt, merken wir, daß China zu diesem Zweck nur gewisse historische Ereignisse anführen kann, die aber angesichts der Hauptströme der tibetischen Geschichte nicht so wesentlich sind. Im 7. und 8. Jahrhundert gab es zwei Hochzeiten von tibetischen Herrschern mit chinesischen kaiserlichen Prinzessinnen. Wenn die Chinesen dieses Argumentes auftischen, ignorieren sie behutsam die vielen anderen Frauen des tibetischen Königs, darunter auch eine nepalesische Prinzessin, die ihm von dem Nachbarherrscher zur Frau gegeben wurde, sowie die Tatsache, daß die chinesischen Frauen nur widerstrebend und auf Drohung von militärischer Vergeltung hergegeben wurden. China argumentiert auch, daß es in jener frühen Epoche der tibetischen Geschichte großen kulturellen Einfluß auf Tibet genommen hätte. Aber welches Land wurde schon nicht kulturell von seinen Nachbarn beeinflußt? Das Ausmaß fremden kulturellen Einflusses hat außerdem nichts mit dem politischen oder rechtlichen Status eines Landes zu tun. In der Tat wurde Tibet jedoch viel mehr von seinen südlichen Nachbarn Indien und Nepal beeinflußt.

China will seine Position auch damit rechtfertigen, daß Tibet im 13. Jahrhundert von den Mongolen dominiert wurde. Aber wie könnte der Umstand, daß die großen Mongolen Khans Kublai und seine Nachfolger einen beherrschenden Einfluß auf Tibet ausübten und China eroberten, welches sie daraufhin 100 Jahre lang regierten, Tibet zu einem Teil Chinas machen? Der größte Teil Asiens und sogar weite Landstriche Europas gerieten ebenfalls unter mongolische Herrschaft. Sind etwa all diese Territorien heute auch ein Teil Chinas oder kann China sie beanspruchen? Bei solchen Beweisführungen wäre England heute ein Teil Frankreichs, denn beide standen einst unter römischer Herrschaft.

China behauptet weiterhin, daß die Beziehungen zwischen der Qing Dynastie und Tibet jenseits jedes Zweifels beweisen würden, daß Tibet zu jener Zeit ein Bestandteil Chinas gewesen sei. Die Manchus übten im 18. und 19. Jahrhundert einen gewissen Einfluß in Tibet aus, und die Kaiser knüpften spirituelle und ganz gewiß auch politische Bande zu den Dalai Lamas, die Tibet regierten. Diese Beziehungen waren ähnlich denjenigen mit den mongolischen Herrschern und Khans, vielleicht etwas weniger eng. Als die Manchu Kaiser auf der Höhe ihrer Macht standen, nachdem sie China erobert und die Qing Dynastie etabliert hatten, übten sie beträchtlichen Einfluß in Tibet aus. Sie hielten dort einen "Residenten" mit einer kleinen Gefolgschaft und sie entsandten Truppen, um Tibet gegen fremde Eindringlinge beizustehen. Zeitweise mischten sie sich sogar in die inneren Angelegenheiten Tibets ein.

Auf dem Höhepunkt der Manchu Macht könnte die Beziehung daher am ehesten mit der eines Protektorates verglichen werden. In solch einem Fall kann ein Staat einem anderen dafür daß er Einfluß nehmen oder die auswärtigen Angelegenheiten kontrollieren darf, seinen Schutz anbieten. Er kann in seinem Protektorat Truppen oder einen "Residenten" stationieren, um seine Interessen zu wahren und im Namen des unter seinem Schutz stehenden Landes Verträge zu schließen. Ein unter Schutzherrschaft stehendes Land oder ein "Satellitenstaat" kann von dem ihm Schutz gewährenden Staat auf verschiedene Weise eingeschränkt werden, wie etwa durch Einmischung in die äußeren und inneren Angelegenheit, durch Stationierung von Truppen, Schaffung einer Interessensphäre oder durch Verhinderung, daß andere mit dem betreffenden Land Geschäfte machen. Weder Protektorate noch Satellitenstaaten verlieren jedoch ihre Unabhängigkeit. Wenn Anwesenheit von fremden Truppen, Einflußnahme, Einmischung und militärische oder gar politische Bündnisse bereits den Verlust des unabhängigen Status eines Staates bedeuten, welche Länder wären dann in diesem Sinne überhaupt noch unabhängig zu nennen?

Selbst wenn wir, um diesen Argumenten gerecht zu werden, ein größeres Maß an Abhängigkeit oder gar einen Verlust der Unabhängigkeit unter dem Manchu Reich voraussetzten, dann ließe dies die Schlußfolgerung dennoch unverändert, denn im Jahr 1911 entfielen mit dem Fall des Manchu Reiches alle Beziehungen Tibets zu seinem östlichen Nachbarn. Was auch immer für Bande zwischen den Dalai Lamas und den Manchu Kaisern der Qing Dynastie bestanden haben mögen, sie wurden nun gänzlich ausgelöscht. Von 1911 bis 1950 vermied Tibet jeden unberechtigten fremden Einfluß mit Erfolg und verhielt sich in jeder Hinsicht wie ein völlig unabhängiger Staat.

Tibet pflegte niemals ausgedehnte internationale Beziehungen, aber jene Länder, mit denen es in Beziehung stand, behandelten Tibet so wie sie jeden anderen souveränen Staat behandeln würden. Wie ich zuvor schon feststellte, war Tibet tatsächlich im Verlauf seiner Geschichte viel freier als die meisten anderen Länder. Es wurde niemals kolonisiert bis 1950, zu einer Zeit also, als die meisten Kolonialländer dabei waren, ihre Unabhängigkeit zu gewinnen. Tibet war, wie ich bereits sagte, 1950 ein souveräner Staat. Seit damals geschah nichts, was seine Souveränität auf China übertragen hätte. Deshalb ist Tibet heute ein rechtswidrig besetzter Staat.

China überfiel Tibet und besetzte es mit Gewalt. Souveränität kann nicht durch Drohung oder Anwendung von Gewalt erworben oder transferiert werden, zumindest nicht, seit die Charta der Vereinten Nationen in Kraft trat. Obwohl China weltweit einer der stärksten Befürworter dieser Maxime ist, zwang es Tibet durch Drohung und Gewalt einen Vertrag auf. Solche Verträge sind dem internationalen Recht zufolge ab initio ungültig. Das bedeutet, daß sie unabhängig davon, ob sie abgewiesen werden oder nicht, wie es der Dalai Lama bei der erst möglichen Gelegenheit tat, niemals Gültigkeit besaßen.

China hält seine Kontrolle über Tibet durch fortgesetzte Einschüchterung und den Einsatz von Gewalt aufrecht. Wenn also die Souveränität über ein anderes Land nicht durch den illegalen Einsatz von Gewalt erworben werden kann, dann erst recht nicht durch die fortgesetzte Unterdrückung des betreffenden Landes. Vielleicht verhielte es sich anders, wenn die fortgesetzte Okkupation friedlich wäre, mit einem gewissen Maße an stillem Einverständnis der Bevölkerung und wenn die Ansprüche Chinas für richtig befunden würden.

In Tibet benötigen die Chinesen hunderttausende von Soldaten, um eine Bevölkerung von 6 Millionen in Schach zu halten. Die Tibeter rebellierten schon zu vielen Gelegenheiten. Bei dem berühmten Aufstand von 1959 wurden über 100.000 Tibeter getötet, 1972 kamen 12.000 Menschen um und bis 1974 wurde ein Guerilla Krieg geführt. Der Widerstand im Untergrund wächst. Die Exilregierung und die Exilgemeinschaft stellten eine ständige Herausforderung für die chinesischen Ansprüche dar. Die tibetische Exilregierung besitzt als eine Rechtsnachfolgerung der legitimen Regierung des unabhängigen Tibets in Lhasa alle Kennzeichen einer echten Regierung, nämlich Exekutive, Legislative und Justiz, trotz der gegenwärtigen schwierigen Umstände. Wie der federführende internationale Jurist und Richter P. Jessup feststellte: "Nichts illustriert den dynamischen Aspekt der Kontinuität besetzter Staaten besser als die Existenz und die Aktivität von Exilregierungen oder, wie es zuweilen ausgedrückt wird, der Staaten im Exil".

Tibet ist das größte Territorium, das seit dem Zweiten Weltkrieg seiner Souveränität beraubt wurde, und die Tibetische Exilregierung ist die einzige tatsächlich funktionierende Exilregierung, die es in der Welt gibt. Sogar bei kleineren Territorien fanden solche illegalen Annexionen keine Anerkennung. Um zu wiederholen, China ist einer der größten Befürworter auf Erden für den Grundsatz, daß niemand sich fremdes Staatsgebiet durch Gewalt, durch ungleiche oder erzwungene Verträge oder durch lang andauernde Kontrollausübung aneignen darf. So dürfte eigentlich Tibet - Chinas eigenem Bekenntnis zufolge - heute nicht als ein Teil Chinas betrachtet werden.

Noch einmal sollte betont werden, daß China niemals beanspruchte, Tibet 1950 oder nach 1950 annektiert zu haben. China erhebt vielmehr den Anspruch, daß sein Recht auf Tibet einzig und alleine auf der alten Geschichte basiere, das heißt auf den drei zuvor erwähnten Argumenten. Wie wir darlegten, beweist keines davon, daß Tibet an China angegliedert war oder einen Bestandteil Chinas gebildet hätte. Daher ist Tibet heute immer noch ein rechtlich unabhängiger Staat. Seine fortgesetzte Besetzung durch China stellt eine ernste Verletzung des Völkerrechts dar. Unter dieser Voraussetzung sollte man die Lage sehen und das Benehmen Chinas in Tibet beurteilen und wie es die Tibetfrage auf internationaler Ebene handhabt. China argumentiert auch, daß Tibet rückständig gewesen sei, und daß die Tibeter die Hilfe Chinas zu ihrer Entwicklung benötigt hätten. In einem in der Beijing Review, welche diese von den Chinesen allgemein akzeptierte Ansicht vertritt, heißt es in einem typisch kolonialistischen Jargon: "Wir sind gekommen, um die armen und rückständigen Eingeborenen zu zivilisieren". Tibet war in der Tat wirtschaftlich, technisch und sozial rückständig. Aber dasselbe kann von beinahe ganz Asien vor 1950, einschließlich des größten Teils Chinas, behauptet werden. Es stimmt, daß einige Länder Asiens auf diesen Gebieten beträchtlich weiter fortgeschritten waren. Aber verglichen mit Afghanistan, Nepal. Bhutan, um einige zentralasiatische Länder zu nennen, unterschied sich Tibet nicht sehr. Gesetzt den Fall, daß Tibet tatsächlich besonders rückständig war, würde dieses Argument genügenden Grund liefern, um ein Land zu überfallen und zu besetzen?

Ich könnte hinzufügen, daß das, was mich bei meinem neulichen Besuch in Tibet am meisten beeindruckte, die Tatsache war, daß China in den mehr als vier Jahrzehnten seiner Besatzung wenig hinsichtlich der Verbesserung des Lebensstandards des tibetischen Volkes vorzuweisen hat. Natürlich hat sich die Infrastruktur verbessert, viele neue Gebäude sind entstanden und viele Städte haben sich vergrößert. Aber die meisten dieser materiellen Errungenschaften kommen den gewöhnlichen Tibetern nicht zugute. Dagegen haben die Jahre der Besatzung dem tibetischen Volk noch nie da gewesenes Leid und Elend gebracht, das in gar keinem Verhältnis zu jenen Errungenschaften, welche die Chinesen meinen, den Tibetern geschenkt zu haben, steht. Noch nie zuvor haben die Tibeter eine derartige politische, religiöse und physische Unterdrückung erlitten oder solche wirtschaftlichen Entbehrungen, einschließlich Hungersnöten ertragen müssen. Es gibt wohl keine tibetische Familie, die nicht irgend eines ihrer Mitglieder durch Tod, Gefängnis oder Verletzung verloren hätte. Alexander Solzhenycyn beschrieb einmal das chinesische Regime in Tibet als "brutaler und inhumaner als jedes andere kommunistisches Regime auf Erden".

Schluß

SCHLUSS

Als eine Folge der anhaltenden Besetzung sind die Tibeter zu einer unbedeutenden Minderheit in ihrem eigenen Land reduziert worden. Tibet als ein Staat, eine Nation, ein Volk ist zur planmäßigen Auslöschung verurteilt. Nach Jahren der Unterdrückung, der Zerstörung in einem beispiellosen Maß siedelt Peking heute Millionen von Chinesen in Tibet als Teil der Endlösung der Tibetfrage an, was eine Verletzung der Genfer Konvention von 1949, welche Bevölkerungstransfer verbietet, darstellt.

Heutzutage gibt es also zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen, die in ganz Tibet Seite an Seite existieren müssen. Die tibetischen Gemeinschaften wohnen meistens in Dörfern und Kleinstädten, die überhaupt keinen modernen Komfort und Einrichtungen aufweisen, oder in dem, was nun die "Ghettos" der ehemaligen tibetischen, aber nun chinesischen Städte wie Lhasa, Gyantse und Shigatse geworden sind. Sie haben nur geringe Ausbildung, ein niedriges Einkommen und leben unter miserablen hygienischen und medizinischen Bedingungen. Auch die chinesische Bevölkerung lebt nicht gerade im Luxus, aber sie und ihre Kinder genießen eine weit bessere Erziehung in chinesischen Schulen, sie haben eine bessere medizinische Versorgung, ein höheres Einkommen als die Tibeter und genießen zahlreiche Vergünstigungen durch die Regierung. Und das Wichtigste ist vielleicht, daß die Chinesen die Produktionsmittel besitzen und kontrollieren, den wirtschaftlichen Fortschritt und die Verwaltung fest in der Hand haben. Die beiden Bevölkerungsgruppen kommunizieren kaum miteinander, denn es herrscht eine ausgesprochene, gegenseitige Abneigung.

Was sind nun die Alternativen für die Zukunft Tibets? Ein entmilitarisierter, atomwaffenfreier Pufferstaat, der von Tibetern unter einem verbindlichen und festen Abkommen, das Chinas Sicherheitsbedürfnisse und das Recht Tibets auf Selbstbestimmung befriedigt, verwaltet wird? Oder ist das Verschwinden Tibets und die regionale Instabilität in dessen Gefolge unvermeidlich? Wir müssen das Problem als solches einfach erkennen und behandeln: China wurde zu einer Zeit gestattet, sein Reich auszuweiten und Tibet zu einer Kolonie zu machen, als andere Großmächte sich gezwungen sahen, ihre Kolonien aufzugeben und ihre Weltreiche abzubauen. Chinas Regime in Tibet ist kennzeichnend für die typischen Unterdrückungsformen des Kolonialismus. China praktiziert offen ethnische Diskriminierung in Tibet, während es sonst anderen Ländern gleich den Rassismus verurteilt, wo immer dieser sein häßliches Haupt erhebt. Kolonialismus gehört der Vergangenheit an. China sollte gemahnt werden, daß es seine Kolonien nun abschütteln muß, wie andere es auch haben tun müssen.

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